Hermann Wenng
Grober Unfug
Eine Plauderei mit ernstem Einschlag
Es war im Sommer des Jahres 1936, da war in den Zeitungen durch Tage hindurch zu lesen von einem „Drama“, das sich in der Nordwand des Schweizer Berges „Eiger“, eines Teiles des Jungfrau-Massives, abgespielt hatte. Drei junge Leute hatten den Versuch unternommen, eine Erstbesteigung dieser als unbesteigbar bekannten Wand durchzuführen und waren bei diesem von vornherein aussichtslosen Versuch, vor dem bergkundige Menschen eindringlichst gewarnt hatten, umgekommen.
Sie hatten alle drei unter besonders schweren Umständen ihren Tod gefunden durch Erfrieren, teils aus Erschöpfung — einer derselben hatte sogar zwei. oder drei Tage und Nächte wie ein Lumpenbündel am Seil gehangen, frei in der Luft schwebend, ehe er starb und das Seil riß.
Die Zeitungen hatten daran ihre Bemerkungen von einer besonderen Tragik geknüpft, daß drei junge Menschenleben auf eine so erschütternde Weise zu Grunde gehen mußten bei einem Wagnis, vor dem man sie freilich fruchtlos gewarnt hatte, denn sie hatten auf diese. Warnung geantwortet: „Entweder gehört der Berg uns oder wir gehören dem Berg!“
Es dürfte nun kaum einen Menschen gegeben haben, bei dem sich in das Bedauern über den schlimmen Tod dieser drei Bergsteiger, die man im Allgemeinen als die Opfer eines an sich ganz gesunden und berechtigten Ehrgeizes ansieht, als Opfer eines notwendigen und richtigen menschlichen Strebens, nicht doch ein sonderbares Gefühl, eine Empfindung von Schuld mit einschlich, das keinem so recht klar geworden sein mag, das aber doch unleugbar vorhanden war.
Alles Reden und Schreiben über ein leider vergebliches Heldentum, alles Mitleid mit den Anverwandten, den Müttern dieser drei und alles Bedauern über das Mißgeschick vermag es nicht zu verscheuchen. Aus Aeußerungen über die sehr zahlreichen ähnlichen Vorkommnisse klingt es wie ein uneingestandenes Geständnis von Mitschuld, die Worte über die Tragik solchen Geschehens wollen nicht recht über die Lippen und nicht recht aus der Feder, es sieht erzwungen und falsch aus, und allen’ ist es zu Mute, als ob sie auf einer. Lüge ertappt würden.
Bei diesem besonders krassen Fall zwar, bei dem das Unrichtige der Handlungsweise so ganz unzweifelhaft zu Tage tritt, half ‘man sich vielfach durch Schelten über die Unbesonnenheit und zu großen jugendlichen Wagemut über eben diese Empfindung von Mitschuld hinweg. Ebenso klar ist es aber auch, daß man im Falle des Gelingens das Tun dieser drei jungen Menschen als eine bemerkens- und lobenswerte Heldentat würde in allen Tonarten besungen haben und die meisten von denen, die bei Mißlingen sich über dies sonderbare Gefühl von, Schuld hinweggescholten haben, würden im Gelingensfalle ebenso stolz auf sie gewesen sein, stolz, daß wieder einmal der Geist, der Mut und die Tatkraft des Menschen über die Natur triumphiert habe. Viele wären dadurch angeeifert worden, ebensolches und womöglich noch „Größeres“ zu versuchen, die hervorragende Tat durch eine noch hervorragendere zu übertrumpfen.
Dies ist jedenfalls nicht zu bestreiten, wie doch auch gewiß niemand bestreiten wird, daß unzählige analoge Fälle geschehen, bei denen immer ein Mensch es dem andern nachmacht, einer durch den andern angeregt wird, nach aller Möglichkeit den Vorhergehenden und das Vorhergehende zu überbieten, daß also lediglich der Ehrgeiz die treibende Rolle spielt bei all diesen Geschehnissen. Lediglich der Ausgang, der nicht immer dem Menschen das Risiko dieses Beginnens so deutlich vor Augen führt, unterscheidet sie voneinander.
Nicht immer ist das Unsinnige und Zwecklose dieser und ähnlicher Wagnisse so in die Augen springend, wie hier bei diesem Bergklettern, bei dem doch auch bei bestem Gelingen irgend ein Nutzen für irgend wen noch für irgend was nicht zu ersehen ist, wenn man die Gelegenheit, Zeitungsartikel und Notizen zu schreiben, nicht für einen solchen ansehen will. Es werden also hier alle Stimmen, bis auf die wenigen direkt oder indirekt Beteiligten sich darin einig sein, solches Beginnen mindestens für unnötig zu erklären; einige Wenige werden sich dazu aufschwingen können, dieses Beginnen als das zu erklären, was es ist: Grober Unfug!
Wenige auch werden sich .bei solcher Erfahrung die Frage vorgelegt haben: Haben die Menschen wirklich nichts anderes Mehr zu tun; als daß sie solches unternehmen? Wissen die Menschen nichts Besseres mehr mit ihrem Leben anzufangen, als es für solche Albernheiten hinzuwerfen? Und einige Wenige sind vielleicht durch solche Lektüre dazu angeregt worden, sich es flüchtig durch den Kopf gehen zu lassen:
„Wenn dies ein Menschenleben ist, wie ist es dann die Mühe wert, daß es gelebt wird?“
Diese und ähnliche Fragen drängen sich dem aufmerksameren Beobachter und denkenden Menschen auf Schritt und Tritt auf, man muß sich wundern, daß es nicht mehr geschieht und dass diese Dinge alle einfach als ein unabänderliches Fatum hingenommen werden. „Es ist eben so und wird immer wieder vorkommen“, damit beschwichtigt man alle auftauchenden Fragen. —
Wenn es sich um den .tödlichen Unfall eines Rennfahrers handelt, der mit seiner Maschine bei 400 oder 500 km Geschwindigkeit einen Sturz tut, und mit dem Wagen verbrennt, so meint man, „daß alle großen Bestrebungen des Menschen eben ihre Opfer fordern“, und die Ueberreste des Verunglückten werden mit großen Ehren begraben.
Wenn man aber jemanden fragen würde, wo denn das Ganze einmal enden wird, und welches Ziel dem Menschen dabei wohl vorschweben mag, so wird man keine klare oder irgend eine befriedigende Antwort bekommen können, sondern auf jeden Fall eine ausweichende, eine solche, die das auch hier auftauchende Mitschuldgefühl an der Opferung so vieler Leben für eine im letzten Grunde zwecklose und gleichgültige Angelegenheit zu beschwichtigen unternehmen will.
Dem wirklich Ehrlichen aber drängt sich leise das Wort auf: „Grober Unfug!“
Niemand weiß anzugeben, für welches edle Ziel diese unendlichen Opfer gebracht werden, wenn es nicht auch hier zuletzt einzig und allein der „Ehrgeiz“ ist. Bei der Entschuldigung dieser Opferung so vieler für den „Fort-schritt“ der Technik, Belebung des Geschäftes, Konkurrenzierung u.s.w. ist bestimmt niemand wohl! Und auch hier wird man sich immer. fragen müssen: „Gibt es wirklich kein anderes Ziel für die Menschen? Wissen sie mit ihrem Leben wirklich nichts anderes anzufangen? Ist es ein Ziel, das den Einsatz so vieler Leben wert ist?“
Und so kann man alle menschlichen Tätigkeiten, Unternehmungen, sogenannten Bestrebungen, betrachten — immer wird sich dem feiner Gesinnten die bange Frage aufdrängen: Wozu? Wohin? Freilich, klar bewußt wird diese Frage den Wenigsten kommen, ist man doch durch aus gewohnt, alle diese Dinge als „naturgegeben“ zu betrachten, insofern man sie überhaupt „betrachtet“ und nicht einfach alles laufen lassen will, wie es läuft, in der Hoffnung, daß „man selbst“ vielleicht doch von diesem tollen Wirbel möchte verschont bleiben.
Tatsache ist indessen — und der Versuch, dies zu leugnen, dürfte wegen seiner Aussichtslosigkeit wohl auch gar nicht erst gemacht werden — daß kein Mensch auf Erden lebt, der das Treiben der Menschen auf Erden zu verstehen vermöchte!
Viele leben nun in der sonderbaren Hoffnung, daß vielleicht doch irgendwo einer sein würde, der es versteht. Einer verläßt sich dabei auf den anderen: der Geschäftsmann auf den Politiker, der Politiker auf den Wirtschaftler, dieser wieder auf den Gelehrten, auf den Spezialwissenschaftler und dieser zuletzt wieder auf den Philosophen, und alle zusammen auf irgend wen, den sie nicht kennen.
Ein jeder weiß, wenn er ehrlich sein will, aber nur das eine: daß er es nicht versteht, was selbstredend nicht ausschließt, daß es viele gibt, die sich so anstellen, als ob sie es verstünden, als ob sie Auskunft über das Ende und die Ziele menschlicher Bestrebungen, die auch ihnen in einem versteckten Winkel ihres Denkens manchmal die Bezeichnung „Grober Unfug“ zu verdienen scheinen mögen, zu geben vermöchten. Wer freilich genau hinsieht, wird unschwer gewahr, daß alles sich über das Nichtwissen durch tönende Redensarten hinweghelfen möchte, daß alles Schreiben und Reden letzten Endes nur Verlogenheit ist. Gewiß ist und sicher nur das eine, und dies ist, daß niemand etwas weiß! Daß sich ein jeder auf den anderen verläßt, daß dieser es schon wissen müsse, was er tut und warum er es tut.
Wer vermag es aber zu leugnen, daß der Menschheit ganzes Denken, Streben und Tun zum Ende immer in eine Art groben Unfugs ausartet? Das „harmlose“ Bergsteigen, das Klettern, die Rekordsucht im Sport sind alles nur Ausfluß eines Grundübels. Viele erkennen aber nur die Folgen und meinen, wenn man solche Auswüchse beschneiden könnte, würde der ganze Baum schönere Früchte tragen. Dem Grundübel aber, dem Nichtwissen, der völligen Blindheit gegenüber dem Ende solchen Weges will niemand zu Leibe gehen.
Wenige sind, die einmal sinnend stehen und ihr eigenes Leben und Treiben empfinden als einen „Groben Unfug“ — vor — ja, vor welchem Gesetz? Vor der Menschen Gesetz? Vor dem, das sie sich selbst gaben? Vor der Kirchen Gesetz? Vor der Menschen Gesetz ist dies alles gerecht; die Kirchen weihen, die Waffen und beten um den Sieg der gerechten Sache — und dennoch empfinden es Unzählige, daß sie trotzdem ein Gesetz verletzen. Sie empfinden es, wollen es nur nicht wahr haben, denn sie haben keine Erklärung dafür und ihre Eitelkeit läßt es nicht zu, einzugestehen, daß sie keine haben. Wenige nur sind, die es nicht leugnen und ehrlichen Herzens einen Weg suchen, der sie zum Wissen führt, zum Erkennen führen könnte.